Kein Zugriff auf sich selbst
-
Gesamtwertung
Zusammenfassung
Sprachlich flüssig und emotional hervorragend nacherlebbar gestaltet führt Oliver Wnuk den Leser Schritt für Schritt sehr, sehr hintergründig mitten hinein in eine innere Welt emotionaler Armut und Selbstbezogenheit, die lange nachhallt.
So harmlos lässt Oliver Wnuk seine Geschichte beginnen und über weite Strecken im altbewährten Muster einer vermeintlichen „erwachenden romantischen Liebesgeschichte“ vor sich hin laufen (mit einem dramatischen „Zwischenereignis“), so „bekannt“ entfaltet er mit einigen Stereotypen seine Hauptfigur zunächst als „sympathisch, aber (leicht) gebrochen“, dass es eine Weile dauert, die wirklichen Abgründe im Buch zu erfassen.
Und auch diese Erfassung löst Wnuk, wie so vieles andere, sehr, sehr gekonnt auf. Denn es gelingt ihm tatsächlich, zunächst eher unbestimmte, störende Emotionen beim Leser auszulösen, eine Art schleichendem Beginn von Antipathie gegen die hauptsächlich agierenden Figuren, so dass dem Leser erst nach und nach im letzten Drittel des Buches gewahr wird, was das denn genau ist, was ihn mehr und mehr in Distanz zu Josch, dem Bademeister und Maria, der jungen, blinden Frau, bringt.
Josch und Maria, die sich einander anzunähern scheinen, sich gemeinsam auf die Reise nach Menton in Frankreich machen, wo Josch seinen Sohn treffen möchte. Um den er sich seit Jahren, vordergründig aus Geldmangel, nicht kümmern konnte. Der bei Joschs ehemaligen Frau ein sorgenfreies Leben lebt, für Josch aber zu einem Fixpunkt des Denkens wird.
Jener Josch, der zu Beginn des Buches eine scheinbar intensive Freundschaft zu einem 14järhigen, tauchbegeistertem Mädchen pflegt und durch ein dramatisches Unglück in eine unhaltbare Position gerät. Aber war das wirklich ein Unglück? Geschickt setzt Wnuk einen ersten Bruch in der sympathischen Nähe zu Josch, in dem er ihn einen (vermeintlichen?) Traum träumen lässt, der eines eiskalten Killers würdig wäre. Eine erste Durchbrechung, die der Leser zunächst noch einsortiert und der Dramatik in Josch zuschreibt.
Doch Seite für Seite tauchen mehr Zweifel auf. Mehr Zweifel daran, ob da tatsächlich jemand nur aufgrund kleinerer Fehler in eine schwierige Situation gelangt ist und nun „seine zweite Chance“ dringend sucht. In der Liebe. Angesichts seiner angehäuften Schulden. In der Befriedung und Vertiefung seiner Beziehung zu seinem Sohn.
Es dauert, bevor der Leser beginnt zu begreifen, dass Josch nicht aufgrund „kleinerer“ Fehler oder unverschuldet da angelangt ist, wo er steht, sondern dass diese auf sich bezogene, emotional autistische Daseinsform viel eher das ist, was sich durch sein Leben zieht.
„Für die ganze Familie warst Du echt so etwas wie eine fiese Krankheit. So eine die kommt, stärker wird, alle schlapp und müde macht, sich aber irgendwann doch wieder verzieht“.
Und genau hier hat Josch keinen Zugriff auf sich selbst, reagiert aggressiv auf jede noch so gut gemeinte Warnung und Kritik.
Eine verdeckte emotionale Egomanie, die deswegen so unlösbar im Buch erscheint, weil Josch sich nicht selber in den Blick nehmen kann. Kleine Hinweise gibt Wnuk darauf bereits zu Beginn über Josch, der in keinen Spiegel zu schauen vermag. Innere Haltungen, Zwänge, die auf der Reise mit Maria nach Menton stärker und stärker in den Blick rücken und, da kennt Wnuk keine Rücksicht, sich auch in dieser so sympathisch, stark angelegten Maria ebenso wiederfinden lassen.
Menschen, die sich nicht „heilen“ oder „heilen“ lassen, sondern dann eben an anderem Orte andere Menschen mit ihrer Unmöglichkeit zur emotionalen Einfühlung krank machen.
Ein Sein, in dem ihm Maria auf eine ganz andere Weise zwar, aber dennoch wenig nachsteht. Eine treffende Beschreibung auch über das Buch hinaus einer egomanischen Welt, in der jeder so insulär in sich verstrickt seiner Wege geht, dass meist einem selbst gar nicht auffällt, das ein echter, innerer Kontakt, ein Hören und Lernen aus Kritik, eine gemeinsame Entwicklung gar nicht mehr stattfindet. Was nicht passt, wird weggeschoben, mundtot gemacht mit aggressivem Geschrei, oder, wenn es gar nicht anders geht, wird verlassen und weggewichen.
„Warum Josch, warum weiß Maria nichts davon? Warum weiß sie so wenig von ihnen“?
„Ich würde jetzt, glaube ich, gerne aufbrechen!“
„Sie sind feige, Joch“
Und genau das ist der Punkt.
Sprachlich flüssig und emotional hervorragend nacherlebbar gestaltet führt Oliver Wnuk den Leser Schritt für Schritt sehr, sehr hintergründig mitten hinein in eine innere Welt emotionaler Armut und Selbstbezogenheit, die lange nachhallt.