Was hätte sein können....
-
Gesamtwertung
„Viel Aufhebens wurde bei jenem Empfang darum gemacht, dass bald der erste Kandidat aus den Kolonialgebieten – eins schwarzer Mann von der Insel Martinique – den Eid auf das wichtigste Amt der französischen Republik ablegen würde“.
Ja, das sind schon Probleme im Europa des 21. Jahrhunderts. Ist die Welt nicht in rasendem Wandel begriffen? Hat da nicht sogar da hinten im „Hinterwald“ des Herzogtums Finnland ein Eingeborener eine Art tragbares Telefon erfunden? Und jetzt ein „Schwarzer“ aus den Kolonien (die natürlich in jedem Großreich alle noch existieren!).
Was aber letztendlich doch nicht wirklich interessiert in dieser gemächlichen Kaffeehauswelt Wiens. In einer Romanwelt, in der so vieles nicht stattgefunden hat, was in der Realität die Welt aus den Fugen warf. Der erste Weltkrieg? Aber nein, Franz Ferdinand ist rechtzeitig aus Sarajewo abgereist. Der zweite Weltkrieg? Gar kein Bedarf, war doch alles in bester Ordnung. Der Holocaust? Niemals. Eine Welt, in der der „Almdudler“ den Siegeszug als Getränk angetreten hat, nicht irgendeine Cola aus dem ungeschliffenen Amerika.
Deutschland der Erzfeind? Auch nicht. Nach 1871 gab es keine großen Kriege mehr, jedes der Reiche lebt so vor sich hin. Allerdings, eines muss man den überheblichen und leicht ungehobelten Preußen lassen. Da das Rüsten zu nichts führte, hat man doch tatsächlich 1945 den Mond in Beschlag genommen und eine Kolonie gegründet.
Eine Welt somit, die dem langsamen Fortschritt frönt, den Tag zu genießen gedenkt. So wie Alexej von Repin, russischer Student in Wien, immer knapp am Limit mit seinem Geld, der eingeführt wird in die „Welt des literarischen Salon“ bei Barbara Gottlieb. Und sich unrettbar verliebt. Zu seinem großen Verwundern nicht ohne Aussichten.
Eine Welt voller Kultur, in der das europäische Judentum nicht ausgelöscht wurde oder emigrierte. Mit Folgen. Die Literatur blüht, jüdische Maler stehen hoch im Kurs, die Psychoanalyse hat in ihrem Zentrum Wien auch die „wilden 60er und 70er Jahre“ überstanden. Die Filmindustrie ist nicht in Hollywood zu finden, alle Kreativen des Films konnten ja ungestört weiter in Europa arbeiten. Amerika ist eine Republik, aber ohne jede Kultur und damit nicht ernst zunehmen. Immerhin haben die da so etwas wie „Stacheldraht“. Ein Traummotiv eines armen, von Albträumen geplagten Mannes. Etwas, was der behandelnde Analytiker erst einmal im Lexikon nachschlagen muss. Und Bomben, die aus Flugzeugen fallen und Fahrzeuge auf Raupen? Ein Mann mit kurzem Schnäuzer, der Dunkelheit über die Welt bringt? Was sind das für Träume?
Nur an dieser Stelle der Albträume lässt Stein die „wahre Wirklichkeit“ in seinem Roman durchblitzen, ansonsten folgt er strikt und mit großer Sprachmächtigkeit seiner Grundidee einer Welt, in der all dies nicht hat stattfinden müssen. Eine Welt, in der Stefan Zweig 1963 in Salzburg stirbt und nicht 1942 sich umbringt aus Gram über den Verlust seiner „Welt von Gestern“. Nein, hier findet sich die weiter gedachte „Welt von Gestern“ Stefan Zweigs.
Eine Welt in Gefahr, auch das. Ein Ereignis droht, das die Welt vernichten könnte. Aber selbst die Arbeit der Forscher an dieser Gefahr hat noch etwas ruhiges, gottergebenes, das im Leser eine Sehnsucht hervorruft nach einer solchen Gewissheit des Lebens.
Denn das sind die Menschen im Buch. Sich der Welt und des nur allmählichen Wandels gewiss, die ihnen, bei allen privaten Eskapaden und Liebestaumel, eine innere Gelassenheit mit an die Hand gibt, die sich Zeit nimmt für dieses Leben. Wie es war in jener kulturell orientierten „Welt von Gestern“, deren Zukunft auf den Schlachtfeldern zerstört wurde.
Im Übrigen, keine Fantastereien sind es, die Stein hier verarbeitet. Im Glossar belegt er, dass alle „technischen Errungenschaften“, alle künstlerischen Strömungen, alle politischen Entwicklungen an reale Personen sich anlehnen, an reale Ereignisse, die eben auch anders hätten fortgehen und sich entwickeln können.
So bietet Hannes Stein eine faszinierendes Welt, die er mit bildkräftiger Sprache zum Leben zu erwecken versteht. Von den „Jausen“ auf der Touristenreise zum Mond bis zur formvollendeten Annäherung an eine „verheiratete Frau“ unter allen Regeln der guten Erziehung. „Der Komet“ ist ein Buch, dass den Leser schmerzlich vermissen lässt, was hätte sein können, was gerade Europa hätte sein können, aber auch die Welt in kultureller Hinsicht, wenn weltbewegende Ereignisse nicht stattgefunden hätten oder anders verlaufen wären. Wenn Franz Ferdinand hätte wenden lassen nach dem ersten Anschlag.
So aber bleibt nur die Haltung derer aus Sarajewo, das „Gott immer Größer ist“. Was im Buch sich ganz zuletzt erweisen wird, in einer Welt der friedlichen Koexistenz der Religionen und Traditionen. Eine sehr empfehlenswerte Lektüre.