Das Lied der Stare nach dem Frost

Familie mit dunkler Vergangenheit
  • Gesamtwertung
5

Das Lied der Stare nach dem Frost

Das Gisa Klönne Erfahrungen im Genre des Kriminalromans besitzt, merkt man auch diesem Roman an. Eine Familiengeschichte, die auf zwei Zeitebenen erzählt wird, die nichts an „Fall“ oder „Mord“ in sich trägt, und die dennoch auch um ein dunkles Geheimnis aus der Vergangenheit kreist, dessen „Aufklärung“ den Leser in den Bann zieht.

In den Bann der Familie Retzlaff, einer Pfarrerfamilie. Und so steht im Erzählstrang der Vergangenheit im Buch auch ein Pfarrer im Mittelpunkt. Theodor Retzlaff, 1900 geboren, Frontsoldat mit traumatischen Erlebnissen im ersten Weltkrieg, späterer Ehemann der lebensfreudigen Elise aus Leipzig, Pfarrer in dem ein oder anderen Dorf und kleineren Stadt in Mecklenburg Vorpommern. Offiziell ein aufrechter Kämpfer für die Gemeinde, einer, der Juden im Pfarrhaus versteckte, der den russischen Soldaten widerstand zum Schutz der ihm Anvertrauten. Aber auch der „Tyrann mit dem Rohrstock“, der seine Kinder mit harter Hand erzog. Der Vaterlandsverehrer. Auch einer, bei dem Verborgene zu entdecken ist.

Etwas, das seine jüngste Tochter Dorothea wohl erfahren hat, aber mit sich in den Tod genommen hat. Ein Autounfall.
Einfach so? Oder bewusst herbeigeführt von Dorothea, die den Verkehrstod ihres Sohnes nie verwunden hat. An fast gleicher Stelle auf der A19.

Ricarda, genannt „Rixa“, Tochter Dorotheas, Enkelin von Theodor, Barpianistin (nachdem sie in der Prüfung zur „großen“ Solopianistin nicht bestanden hat), kehrt nach Berlin zurück, um die Dinge der Mutter zu ordnen. Jener Mutter, mit der sie seit der Pubertät ein Befremden verspürt hat, obwohl doch sie es war, die als Kind zu nächtlicher Stunde die Geschichten der Mutter gehört hat. Geschichten, die auf die Spur der dunklen Vergangenheit führen.

So erzählt Klönne in der Gegenwart von dieser Spurensuche Rixas und in der Vergangenheit vom Leben der Pfarrfamilie Retzlaff und es gelingt ihr wunderbar, die verschiedenen Erzählstränge und das „Geheimnis“zu einem großen, flüssigen Ganzen zu verbinden.

Denn da gab es noch jemanden in der Familie. Amalie. Über die nicht gesprochen wird.

Ein Familienroman also zunächst, wunderbar erzählt. Der Einblicke zudem in die Geschichte Deutschlands gibt. Die intensiven Schilderungen des ersten Weltkrieges, die Zeiten der Inflation, des Lebens im preußischen Pfarrhauses. Des Aufkommens der Nationalsozialisten und der engen Schlinge, aber auch Faszination, die jene „Bewegung“ um die Menschen legte.

Und, nicht zuletzt, bietet Klönne einen ebenso intensiven Entwicklungsroman, der um Rixa kreist, die bisher eher vor den Ereignissen und Schicksalen des Lebens geflohen ist.

„Wann hatte ich zum letzten Mal echte Stille erlebt“? Lange nicht. Aber „ich war es, die einmal mehr den Halt verlor, die noch immer nicht wusste, wohin sie gehörte“. Dies spürt Rixa und macht sich auf, sich selbst in dieser (Familien-) Geschichte zu finden.

Ganz allmählich und langsam am abgelegenen Ort in Mecklenburg Vorpommern nicht mehr einer jener „Stare“ zu sein, die „Betrüger“ sind, „die imitieren nur die Lieder der anderen, weil sie keine eigenen haben“.

Das „eigene Lied“ in sich zu finden, dies ist letztlich das Hauptthema des Romans. Empathisch und sensibel erzählt, in klarer und flüssiger Sprache.

Wie in einem „Rutsch“ erzählt Klönne ihre Geschichte (die sicherlich, betrachtet man Klönnes eigene biographische Daten, das ein oder andere aus der eigenen Lebens- und Familiengeschichte enthält). Eine Geschichte, die in den filigran gezeichneten Figuren sowohl auf der inneren, wie auf der äußeren Eben des Erzählten fesselt.

Eine hervorragend erzählte, persönlich gehaltene und intensive Lektüre über ein Jahrhundert hinweg, die den Leser nicht so schnell wieder loslässt.

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