Aufschlüsselung von Verhaltensweisen als Selbstschutzmechanismus
-
Gesamtwertung
„Das psychische System …. kann nur selbst dafür sorgen, dass und wie es weitergeht“.
Wie Schleiffer in dieser Form treffend bemerkt, führt er im Weiteren aus, dass da, wo eben jenes „psychische System“ sich als „gefährdet“ erlebt, wo „Angst“ in den Raum tritt, ein innere Selbsthilfesystem der Persönlichkeit eingreift, um die „Integrität der Persönlichkeit“ zu schützen. Eine Integrität, die natürlich rein subjektiv zu verstehen ist.
Im Verlaufe dieser „Selbstschutzmaßnahme“ werden Verhaltensweisen erzeugt, die sich zu ausgewachsenen Verhaltensstörungen ausformen können, je nachdem, wie eine mögliche Störung bereits in jener „Integrität“ angelegt ist, die vom System des Ich unter Bedrohung und Angst um (fast) jeden Preis geschützt werden muss.
Ausgesprochen als Schwerpunkt wendet sich Roland Schleiffer in diesem Band „nicht-psychotischen“ Störungen zu. Basierend auf der „Systemtheorie“ nach Luhmann erläutert er die „Funktion“ der jeweiligen Störungen (inwieweit sie zum vermeintlichen Schutz der Persönlichkeit beiträgt) unter ebenso den Verweisen auf den „Sinn“ der jeweiligen Störung (inwieweit eine „Persönlichkeit unter Druck“ der Überzeugung ist, mit einem bestimmen Verhalten sich schützen zu können).
„Negativ bewertete Wahrnehmungen legen ein Vermeidungsverhalten nahe, dass dieses belastende Erleben beenden könnte“. Wobei ein Vermeidungsverhalten an sich sicherlich fast alttäglich bei jedem und jeder anzureffen sein wird. Sollte ein solches Verhalten allerdings „schädlich“ sein für die eigene Person oder die Umwelt und sich zudem ein solches Verhalten habituell verfestigen, dann kann von einer psychischen Störung ausgegangen werden.
Dissozialität, Aufmerksamkeitsprobleme (vor allem ADHS), Depression, selbstschädigendes Verhalten, Süchte, Angststörungen, Zwangsstörungen und „Körpereinsatz“ (Essstörungen bis hin zum Tourette-Syndrom) sind im Folgenden die Bereiche, die Schleiffer einer detaillierten Betrachtung zuführt und sowohl in ihrem subjektiven Sinn als auch in ihrer jeweils biographisch und situationsabhängigen Funktion vor Augen führt.
Ebenso deutlich arbeitet Schleiffer heraus, in wie hohem Maße eigentlich jene „Störungen“ und jenes „schädigende Verhalten“ von der auslösenden Person als durchaus „normal“ angesehen werden und wie stark letztendlich das störende Verhalten, das Problem zunächst und überwertig von „den anderen“ wahrgenommen wird.
So ist sehr verständlich im Buch auch dargelegt, warum sich Verhaltensstörungen über lange Zeit hinweg manifestieren können, ohne als Leiden oder eben Störung wahrgenommen zu werden. Im Gegenteil, gerade durch die Funktion als „Erleichterung und Schutz“ fällt es dem Betroffenen schwer, die Notwendigkeit eines Gegensteuerns zu sehen.
Auch wenn sich Schleiffer bei all dem durchgehend um eine verständliche Sprache und immer wieder um Erläuterungen mit Hilfe auch einfacher Beispiele bemüht (schon der Einstieg in das Buch ist durchaus mit einer einfachen Beispielgeschichte in vielfachen Alternativüberlegungen gestaltet), es ist ein hoch komplexes Thema, dass Schleiffer vorlegt und setzt zum Verständnis beim Leser eine hohe Bereitschaft zur konzentrierten Lektüre und ebenso ein gewisses Abstraktionsvermögen voraus.
Deutlich und klar wird im Rahmen der Lektüre allerdings, dass Schleiffer sehr fundiert und überlegt argumentiert, seine Thesen überzeugend begründet und so „Verhaltensstörungen“ tatsächlich in einem überzeugenden und verständlichem Licht beleuchtet werden.
Wenig allerdings geht es um Interventionen im Buch. Im Epilog weist Schleiffer auf einige praxisrelevante Folgerungen hin, der Schwerpunkt des Buches allerdings gilt der verstehenden Darstellung von Verhaltensstörungen, mithin der Diagnose, im nicht-psychotischen Bereich.
Trotz der Komplexität des Themas und der ebenso hohen Komplexität der Darstellung ist das Buch eine fundierte und sehr empfehlenswerte Lektüre zum Thema, die in dieser detaillierten und begründeten Form ihresgleichen sucht.