In der Brandung

Der lange Weg zurück zu sich selbst
  • Insgesamt
5

In der Brandung

Es ist keine Leiche, kein Verbrechen, kein Bandenkampf, der im Mittelpunkt des neuen Romans des erfolgreichen Kriminalautoren Carofiglio steht. Auch wenn all dieses im Hintergrund mitschwingt. Nicht ein Prozess (von denen Carofiglio des Öfteren bereits einige meisterhaft in seinen Romanen in Szene gesetzt hat) bildet die Handlung des Romans, obwohl ein Carabinieri die Hauptperson ist.

Dieses Mal nutzt Carofiglio seine beruflichen Erfahrungen als Staatsanwalt im Kampf gegen das organisierte Verbrechen, um die Seite eines verdeckten Ermittlers und die Folgen dieses Dienstes für die eigene Person intensiv und dicht darzustellen. Wie in einem Sog, langsam, aber stetig und mit Kraft, zieht die Geschichte den Leser hinein „in den Kopf“ des Ermittlers Roberto Maria. Nur aus dessen innerer Perspektive wird die Geschichte erzählt, nur in dessen Interpretationen der Welt, Träumen, Handlungen erlebt der Leser den verzweifelten Versuch, sich selbst hinter all den Fassaden und der vorhandenen tiefen, inneren Leere wieder zu finden.

Roberto Maria, der eines Tages von einem jungen Kollegen an seinem Schreibtisch sitzend mit dem Lauf einer gut geölten Waffe im Mund vorgefunden wird. Der schon bald nach Eintritt in den Polizeidienst vor Jahrzehnten festgestellt hat, wie gut er mit Kriminellen kann. Wie leicht diese sich mit ihm befreunden, er deren Vertrauen erwirbt. Und es jedes Mal missbraucht, jedes Mal verrät, jedes Mal nur Material sammelt für eine Razzia, eine Verhaftung, eine Überführung. So oft und so lange, dass er kaum mehr weiß, wer er selber ist. Vor allem nach dem letzten Fall, der ihn die letzten Scherben seines Seins gekostet hat.

Warum? Das erfährt der Leser erst zum Ende des Romans. Einzelne Etappen, besondere Fälle, das führt Carofiglio durchaus zwischendrin und hier und da näher aus, indem er seinen Protagonisten von seinem Weg in die verdeckte Arbeit erzählen lässt. Bei seinem Therapeuten (der auch nicht nur souverän in sich ruht, wie sich zeigen wird). Das lässt Carofiglio den Leser erleben, als er seinen Roberto Maria eine Frau kennenlernen lässt. Eine Frau, die sich ebenfalls verloren hat. In der Trauer, in der sie nur Kraft findet, weil sie für ihr Kind verantwortlich ist. In einer massiven Trauer um einen Tod.

„Es ist Deine Schuld. Es ist Deine Schuld. Es ist Deine Schuld“, ist Emmas Mantra. Wie der Verlust des Lebens auch Roberto in den Fängen hat. Zwei Ertrinkende, die aneinander vielleicht etwas wie einen Weg finden werden und die Carofiglio so real und nah schildert, das sich der Leser dem kaum entziehen kann.

Nicht auf bewusster Ebene des Verstandes lässt Carofiglio seine Protagonisten nun Wege suchen, viel unterschwelliger ist die Wirkung dessen, was passiert ist und was in den Gesprächen mit dem Therapeuten und dem sanften Kennenlernen von Emma und Roberto stattfinden wird. Kaum wirklich zu benennen und zu fassen ist dieser langsame, schwer tretende Wandel vom „Lauf im Mund“ der ehemaligen „Manguste“ (einem Tier, dass gegen Schlangegift immun ist wie Maria immun war gegen die Enttarnung im Umfeld härtester Krimineller) zu einem langsamen sich öffnen, zu einem „fließen der Gefühle“, die sichtbar aus ihm herausbrechen werden. Aber auch das wird eher still geschehen. Als ganz normale Worte, Ereignisse wieder einen „präziseren“ Sinn erhalten.

„Die Welt bekommt wieder einen Sinn“.
Das ist das Ziel des Weges und der Leser geht jeden Schritt mit, mit der Frage, ob eine „Rückkehr ins Leben“ überhaupt möglich sein wird.

Sprachlich und atmosphärisch dicht, sehr gründlich dargestellt, ohne den Spannungsbogen aus den Augen zu verlieren ist dies ein „leiser“ aber bewegender und intensiv zu erlebender, sehr zu empfehlender Roman. Der von der Verlorenheit im eigenen Leben handelt, das weiter verbreitet ist, als man es sich selbst zugestehen mag.

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