Himmel über London

Souverän erzählt und spannend verschachtelt
  • Insgesamt
4

Himmel über London

Das erste, was an diesem Buch von Beginn an fesselt ist die souveräne und klare Erzählweise Nessers, die immer genau den Ton trifft, sorgfältig und gründlich den Ereignissen und Personen nachgeht und das stetige Tempo des Romans durchgehend beibehält.

Das zweite, das den Leser bald in Beschlag nimmt, sind die sehr differenziert gezeichneten Figuren, die allesamt mit mehreren Ebenen ausgestattet sind und teilweise zu Tiefen neigen, die ihnen selber kaum bewusst sind, die auch der Leser erst Schritt für Schritt mit manchen Überraschungen zu entdecken hat. Mitsamt der im Laufe der Lektüre immer deutlicher mitschwingenden Frage, was hier überhaupt Realität und was surreal ist.

Seien es die Träume des Leonard Vernim, die ihn mehr und mehr in eine ganz andere Person an einem ganz anderen Ort hineinziehen und von Beginn an als sehr viel mehr und realer wirken als Träume es sollten. Träume in Person eines anderen Mannes, Lars Gustav Selen, der Ähnliches wie Leonard wohl erlebt hat, mit vor allem damals einer Frau gleichen Namens doch mit ganz anderem Ausgang, damals. Oder sind das alles nur Illusionen?

Sei es der Versuch seiner Frau Maud, aus ihrem sterbenden Mann zu guter Letzt noch schlau zu werden und dabei selber ihre tiefsitzende Prägung als professionelle Therapeutin irgendwie auch einmal hinter sich lassen zu können.

Sei es Mauds Tochter Irina, deren besondere Persönlichkeit hier gar nicht vorher geschildert werden soll, die aber feststellen wird, dass sie zufällig einen Roman zur Unterhaltung kauft, der sich als ein Spiegel ihrer selbst herausstellen wird und sie an die Grenzen des erträglichen führen wird.. Ein Buch im Buch somit, ein Teil der Geschichte, der verdeutlicht, wie wenig doch bei allen Versuchen das Leben selber unter starre Kontrolle gebracht werden kann.

Oder Gregorius, Sohn Mauds, der zunächst wie eben ein Junge von über dreißig Jahren wirkt, sich in gleicher Weise verhält und doch im Taumel des Alkohols Wege plötzlich geht, die zu ganz überraschenden Entwicklungen führen werden.

Personen, mit denen Leonard sich zu seinem 70. Geburtstag in London, der Stadt, die ihn zu Zeiten tief geprägt hat, treffen will. Mit diesen und noch zwei anderen Personen. Was nicht nur Maud aufs äußerste überrascht, denn wer sind die beiden anderen, ihr völlig Unbekannten? Und was genau plant ihr Mann da eigentlich zu seinem Geburtstag?

Währenddessen driftet Leonard immer mehr in die eigene Vergangenheit ab, erinnert sich an Carla, die „erste Frau“ und seine „Zeit als Spion“ in London. In der Zwischenzeit verschwindet Gregorius von der Bildfläche, glaubt Irina, den Verstand zu verlieren und findet Milos, der sich auf seine Einladung nach London so gar keinen Reim machen kann, verlorenes Glück wieder, während Lars Gustav Selen das alles geplant zu haben scheint und immer mehr mit der Person Leonards in eins zu gehen scheint. Oder ist das alles doch nur ein Roman im Roman?

Und ganz langsam erst wird dem Leser klar, wie alle diese Personen miteinander innerlich zusammenhängen könnten, welche Rolle die Nebengleise der Geschichte wirklich spielen und welche Geschichte eigentliche die eigentliche Geschichte sein wird. Soweit das überhaupt möglich ist, am Ende des Buches zweifelsfrei zu bestimmen.

Ein Roman, ein Psychogramm. In gewisser Form auch ein Spionage-Thriller, mit vielen Kleinigkeiten, vielen Spuren, vielen Ansätzen, die alle in sich einen der Schlüssel zum Verständnis des Großen Ganzen tragen.

Ein souverän erzähltes und durchaus auf seine Weise fesselndes Buch, auch wenn der Rückblick in die Vergangenheit im Buch teilweise zu viel Raum einnimmt, auch wenn der ein oder andere Strang lange Zeit zu sehr verwirrt, auch wenn, vor allem, so manche Erzählfäden allzu offen verbleiben, zur gleichen Zeit dann doch eher „nebeneinander“, denn „ineinander sterben“, könnte man sagen.

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