Alles beginnt mit einem Kuss

Innere Belastungen brechen langsam aus
  • Gesamtwertung
4

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Elisabeth hat diese Neigung.
Diesen Trieb, sich selbst immer und immer wieder in ganz besonderer Form darzustellen, sich herauszuheben, von ihrer Umwelt grundlegend zu erwarten, dass es nur einen Mittelpunkt des Lebens, des Gesprächs, des Moments geben kann: Sie selbst.

„In Elisabeths Reich war immer Remmidemmi“.

So sagt es ihr inzwischen auch im gereiften Alter angelangter Sohn David. Der vor Langem schon die Konsequenz zog und sich einfach, so früh es ging, aus dem Leben der Adoptivmutter verabschiedet hat. Eine, die meint, auf mythische Weise (durch einen Kuss in jungen Jahren) zu etwas Besonderem, Künstlerischen geworden zu sein. Herausgehoben aus der Masse der anderen. Eine, die andere benutzt, ihnen den Raum zum Leben nimmt, sie ins Unglück stürzt. Vielleicht, ohne es zu wollen, alleine durch ihr Sein. Und selbst ihren Adoptivsohn David in sehr merkwürdiger Weise eines Nachts da mit hineinziehen will.

„Der Kuss der Erleuchtung“ (der „Comicmythos“ zu Beginn des Buches deutet es an), führt zu „Feuer“ und nicht zum „Frieden“ oder zur Selbsterkenntnis.

So zumindest sieht David, der Adoptivsohn, das.

Doch nun ist sein Stiefvater gestorben, ein bekannter Comic Zeichner mit einem Hang zum Mystischen in seinem Werk. Und David wird erinnert an Vorgänge. Damals, als der Vulkan ausbrach, das Leben besonderen Bedingungen folgte, kurz nachdem seine Mutter ihre alte, engste Schulfreundin wieder aufsuchte und zwischen den beiden Frauen und ihren Männern ein Beziehungsgeflecht, eine Dynamik ihren Lauf nahm, die als Drama bis auf den heutigen Tag nachwirkt und Leben kostete. Auf die ein oder andere Art und Weise.

Elisabeth, die Narzisstin.

Laki, der Mann an ihrer Seite. Der ruhige Pol, der das Schauspiel dennoch mitspielt.

Indi, die Schulfreundin. Äußerlich eine gestandene Frau, „die sich nicht mit intellektuellem Geschwafel brüstete“.

Doch der Leser hat auch schon früh im Buch erlebt, dass Indi eine zweite Seite hat. Eine als unsichere, einfache Bauerntochter, die von Glitzer und Glimmer, vom Drang bestimmt, sich von außen mit schönen Dingen zu füllen (ohne daran dann wirklich satt zu werden). Mit einem schweren Erbe aus der Familiengeschichte heraus. „Die, die bluffte und Dinge verbarg“.

Und da ist Jon, Indis Mann. Dessen schwache Seiten Indi sieht und vorweg oft entschuldigt. Einer mit Wut im Bauch, einer, der eine seltsame äußere Ordnung benötigt, um sein Inneres im Griff zu halten. Einer, der wie der geographische Vulkan jederzeit ausbrechen kann. „Es war gruselig, wie ernst Jon alles nahm. Er hatte etwas Unmenschliches“.

Personen, die Minervudottir in ihrer frischen, modernen Sprache ein um das andere Mal mit ihren kurzen, präzisen Charakterisierungen dem Leser unmittelbar nahe bringt, deren Geflecht untereinander, deren Dynamik hin zum „Ausbruch“ spürbar im Hintergrund des Romans mitschwingt. In dieser mythischen Zeit der „Änderung der Welt“ durch „Feuer und Asche“.

So baut Minerevudottir eine Neugier und eine Spannung auf, die den Leser von Beginn an (nachdem er den vorangestellten Comic erst einmal eingeordnet hat) packt.

Ohne sich umgangssprachlich anzubiedern, ohne eine zu verdrechselte poetische Bildsprache zu nutzen, mit einer klaren, modernen Sprache und einem sehr flüssigen Stil erschafft Minervudottir eine zu Recht bereits mit Preisen ausgezeichnete Lektüre voller fassbarer, handfester Personen, die alle wiederum für „Grundpersönlichkeiten des Lebens“ stehen, wie als Symbole das Extravertierte, Suchende, das nicht zu-sich-Findenden und nicht in-sich-Ruhende treffend zum Ausdruck bringen.

Eine sehr empfehlenswerte Lektüre in flüssigem Stil mit Tiefgang und erkennbarer Entwicklung der Personen. In welcher sich die Frage am Ende stellt, ob „Erleuchtung über das, was ist“ manchmal nicht eher die nur zweitbeste Wahl wäre.

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