Mit langem Anlauf
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Gesamt:
Da kann eine leichte Ungeduld durchaus entstehen, wenn Joy Fielding über weite Strecken des Thrillers hin vor allem die innere Entwicklung ihrer Protagonistin, die Belastung, das Zweifeln an den eigenen Sinnen in den Vordergrund rückt. So bedarf es bereits einhundert Seiten zu Anfang des Buches, bevor überhaupt der auf dem Klappentext als einer der Mittelpunkte genannte „Nachbar von gegenüber“ überhaupt erst einmal nachhaltig auftaucht
Und auch dann stehen Wahnfantasien („Haben Sie mich vergewaltigt?“) in Bezug auf so gut wie jeden Mann auf den Bailey Carpenter trifft (vom Bauarbeiter der Baustelle gegenüber bis zu Zufallsbegegnungen mit joggenden Männern) mehr im Mittelpunkt der Ereignisse, als eigentliche und direkte Gefährdungen der jungen, eigentlich durchsetzungsfähigen Ermittlerin einer großen Anwaltsfirma, die mit den Nerven einfach durch ist.
Diesen Zustand allerdings vermag Fielding sehr überzeugend und emotional dicht vor die Augen des Lesers zu stellen mitsamt der vielfachen weiteren Belastungen im Privatleben der zunehmend abmagernden Frau.
Eine Familienfehde um das millionenschwere Erbe ihres Vaters. Ein Bruder, der völlig den Halt zu verlieren droht. Eine Halbschwester mit ihrer Nichte, die lange Zeit den einzigen Lichtblick im Leben Baileys darstellen, das im Chaos zu versinken droht.
Bei einer Observierung nachts ist sie heimtückisch überrumpelt und vergewaltigt worden. Das einzige Indiz, dass ihr klar vor Augen steht, sind die schwarzen Nike Schuhe mit dem weißen Logo des Täters. Und die Stimme des Mannes mit ihrem „Sag, dass Du mich liebst“, während er ihr Gewalt antut.
Überall nun wittert sie den Täter. So intensiv, dass selbst die wohlwollenden Ermittler der Polizei mehr und mehr an ihrem Verstand zweifeln, sie selbst soweit ist, dass sie Wahn von Realität nicht mehr unterscheiden kann. Oder wie sonst sind diese vermeintlichen Anrufe nachts zu erklären, die immer nur ein Freizeichen am anderen Ende der Leitung beinhalten?
„Der Alptraum beginnt, sobald ich meine Augen schließe, und läuft in einer Endlossschleife“.
Oder könnte es doch sein, dass der Mann mit dem zügellosen Liebesleben im Hochhaus gegenüber, der bei voller Beleuchtung mit Vorliebe seine Gespielinnen am Fenster seiner Wohnung „zu nehmen“ weiß (und irgendwie zu ahnen scheint, dass Bailey mit einem Fernglas bewaffnet halb schaudernd, halb erregt ihm dabei zu sieht) etwas mit all dem Druck in ihrem Leben zu tun hat?
Es ist ein perfides Spiel, in dem Bailey sich unwissentlich befindet. Ein perfides Spiel, welches Fielding am Ende des Buches mit einer unvorhersehbaren Überraschung aufdeckt. Eine Lösung des Geschehens, das im Nachhinein die gesamte Konstruktion des Thrillers als in sich logisch und geschlossen darbietet. Was an manchen Stellen im vor hinein natürlich nichts nutzt (so man nicht hinten nachschaut) und daher bei der Lektüre einige Längen dem Leser nicht erspart.
Im Gesamten dann aber fallen die Dinge wie in einem kleinteiligen Puzzle an die richtigen Stellen und ergeben ein intelligent konstruiertes Gesamtbild, dass zusammen mit dem sehr flüssigen und bildkräftigen Stil Fieldings die Lektüre durchaus lohnt.
Auch wenn die Enttarnung des Vergewaltigers am Ende fast unnötig wirkt, ein in dieser Beziehung offenes Ende dem Thriller noch besser zu Gesicht gestanden hätte (warum kann leider nicht verraten werden, ohne die zentralen Wendungen des Thrillers aufzudecken).